Energiekrise: Jetzt vor lauter Dringendem das Wichtige nicht vernachlässigen

Mein Gastkommentar in der NZZ vom 16.09.2022.

Die Vorbereitungen für einen herausfordernden Winter sind in vollem Gang. Nur sollten wir jetzt vor lauter Aktivismus den langfristigen Umbau des Energiesystems nicht aus den Augen verlieren.

Es scheint, als sei die Gefahr einer Energieknappheit im Winter in den Köpfen angekommen. Es werden Krisenstäbe gegründet, es wird zum Kauf von Holz und Kerzen aufgerufen und auf der politischen Bühne wird bereits die Schuld für diese Situation herumgeschoben. Mit kurzfristigen Massnahmen wie der Bereitstellung von Ölkraftwerken und Notstromaggregaten und Energiespartipps wird versucht, die ungewisse Situation etwas zu entschärfen.

Es ist gewiss richtig, die Bevölkerung auf die prognostizierte Mangellage aufmerksam zu machen und alles zu unternehmen, damit die Maschinen am Laufen und die Stuben einigermassen warm bleiben. In dieser turbulenten Zeit mit diesen dringenden Fragen geht aber leicht unter, dass die Schweiz jetzt auch wichtige langfristige Massnamhen für die Energiezukunft treffen muss. Es geht nicht nur darum, möglichst durch den nächsten Winter zu kommen, sondern darum, das Energiesystem auf lange Sicht robust und klimaneutral zu gestalten. Dazu sollte der Schwerpunkt auf drei Bereiche gelegt werden.

Langfristig den Schwerpunkt richtig legen

Erstens muss der Zubau von Photovoltaik deutlich schneller werden. Die Produktionsleistung der auslaufenden Kernkraftwerke muss baldmöglichst mit Photovoltaik ersetzt werden, sonst drohen weitere Mangellagen. Die jährlich neu installierte Leistung von heute 0.8 GW/Jahr muss auf 2 GW/Jahr gesteigert werden. Dies kann unter anderem durch den Abbau von raumplanerischen Hürden und Bürokratie erreicht werden.

Um das erhöhte Tempo des Zubaus auf lange Sicht beizubehalten, müssen die Lieferketten strategisch abgesichert werden. Das heisst, die Schweiz tut gut daran, zusammen mit der EU die Herstellung von Photovoltaik in die Hand zu nehmen. Heute stammen 95 % aller Module aus Asien. Die Schweiz ist momentan bei der Beschaffung von Photovoltaik von China (67 %) mehr abhängig als beim Erdgas von Russland. Weiter muss die Schweiz mehr Planer und Installateure ausbilden.

Die heisse Kartoffel: Saisonale Speicher

Zweitens müssen saisonale Energiespeicher gebaut werden. Es scheint sich bei diesem Punkt um eine Art heisse Kartoffel zu handeln, um die alle herumdrucksen. Dennoch es liegt auf der Hand, dass saisonal schwankenden Produktionsleistungen saisonale Speicher bedingen. Die Schweiz verfügt heute mit ihren Stauseen über eine saisonale Energiespeicherkapazität von 8800 GWh. Aufgrund des starken Eingriffs in die Natur besteht Konsens, dass diese Speicher nicht mehr im grossen Stil vergrössert werden können. Wenn sich die Schweiz nicht auf Stromimporte im Winter verlassen will (wie in den Energieperspektiven 2050+ des BFE vorgeschlagen), sind weitere Speicher von ungefähr noch einmal derselben Kapazität nötig. Realistischerweise kommen hier nur chemische Energieträger für die Speicherung in Frage. Wählt man beispielsweise flüssigen Wasserstoff als Energieträger sind für die erwähnte Energiemenge 200 Kugelspeicher mit je 42 m Durchmesser nötig.

Die kurzzeitige Energiespeicherung (Tag-Nacht, resp. ein paar Tage) stellt ein kleineres Problem dar. Die Schweiz verfügt hier über beträchtliche Pumpspeicherkapazitäten. Stationäre Batterien machen beeindruckende Fortschritte und es wird mit grosser Wahrscheinlichkeit möglich sein, zusätzlich die Batterien von Elektrofahrzeugen für die Kurzzeitspeicherung zu nutzen.

Der dritte Schwerpunkt muss im Bereich Abwärmenutzung der Energieumwandlungsanlagen liegen. Bei der Wandlung von Strom in Wasserstoff und umgekehrt entsteht zusätzlich Wärme. Diese Wärme kann für Fernwärmenetze oder als Prozesswärme für die Industrie genutzt werden. Das hat den Vorteil, dass Fernwärmenetze mit Abwärme betrieben werden können, anstatt dass ihre Wärmepumpen im Winter zusätzlich das Stromnetz belasten. Bei den zahlreichen in Planung befindlichen Wärmenetzen sollte das unbedingt beachtet werden.

Wenn die Energiespeicher in die Nähe von Fernwärmenetzen platziert werden, entsteht so eine dezentrale Lösung in Form von einzelnen «Energiespeicherregionen», welche das nationale Stromnetz entlasten und zur Robustheit des gesamten Systems beitragen.

Drei Fliegen auf einen Schlag

Die beschriebene langfristige Stossrichtung mit der Stromerzeugung durch Wasserkraft und Photovoltaik und der Energiespeicherung mit Pumpspeicherwerken, Batterien und chemischen Energieträgern löst gleichzeitig drei grosse Probleme unserer Zeit: Sie ermöglicht ein klimaneutrales Energiesystem, sie sorgt für eine ganzjährig sichere Energieversorgung und sie befreit uns von der Auslandsabhängigkeit im Bereich Energie und entschärfen damit ein aussenpolitisches Druckmittel. Diese Stossrichtung schafft darüber hinaus einen hohen Anteil regionaler Wertschöpfung.

Die Investitionen in Photovoltaik und insbesondere in die Speicher- und Fernwärmeinfrastruktur sind wir der nächsten Generation schuldig, nachdem wir jahrzehntelang von ausländischer Billigenergie in Form von Öl und Gas profitiert haben. Diese Infrastruktur ergänzt die bestehenden Stauseen in perfekter Weise – übrigens Stauseen, für deren Bau wir unseren Grosseltern dankbar sein müssen, und die heute nie mehr so bewilligt werden würden.

Dieser langfristige Ausbau des Energiesystems muss mit gleicher Vehemenz geschehen, mit der jetzt kurzfristig die Stromerzeugung für den kommenden Winter gesichert wird.